HT 2023: Qualifikationen (er)messen. Bildung und Arbeit im 20. Jahrhundert

HT 2023: Qualifikationen (er)messen. Bildung und Arbeit im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD) (Universität Leipzig)
Ausrichter
Universität Leipzig
PLZ
04107
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2023 - 22.09.2023
Von
Stephanie Zloch / Aron Schulze, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Bildung für den Arbeitsmarkt hat als Untersuchungsfeld lange Zeit weder in der Sozial- und Arbeiter:innen-Geschichte noch in der Historischen Bildungsforschung größere Beachtung gefunden. Dies hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert und ist selbstverständlicher Teil der Gesellschaftsgeschichte geworden, wie zentrale Kapitel in Lutz Raphaels jüngstem Werk „Jenseits von Kohle und Stahl“ oder gleich mehrere Beiträge im 2022 erschienenen Themenheft zur „Sozialgeschichte der Bildung“ des Archivs für Sozialgeschichte zeigen.1 In diese Forschungsdynamik schrieb sich die von Franziska Rehlinghaus (Göttingen) und Benno Nietzel (Frankfurt an der Oder) organisierte Sektion ein. In fünf Beiträgen mit einer zeitlichen Spannweite von der Jahrhundertwende bis zum Transformationsjahrzehnt der 1990er-Jahre arbeiteten die Vortragenden die enge Verknüpfung von Bildungs- und Beschäftigungssystem heraus und zeigten auf, in welchem Spannungsverhältnis dazu die Formierung von Subjekten stand. Mit „Qualifikation“ wurde für diesen Komplex im Sektionstitel ein gegenwartsnaher Begriff gewählt, der gleichwohl die Vielfalt der historischen Begrifflichkeiten nicht überdecken sollte. Ebenso sind die empirisch vorgestellten Verfahren der Qualifikationsmessung als historische Praktiken zu verstehen, mit denen Evidenz erzeugt werden sollte, die aber – wie die Vorträge eindrücklich zeigten – immer auch fragile Fakten lieferten.

Der Begriff der „Eignung“ stand im Zentrum des ersten Vortrags von TILL KÖSSLER (Halle/Wittenberg), der eine Bedeutungsverschiebung in der Verbindung von Arbeit und Bildung nach 1918 markierte: Parallel zur Expansion des Berufsschulwesens verloren Herkunft und Besitz als Determinanten der Berufswahl ihren Einfluss, nun sollten Eignung und Begabung über die Ausbildung und Zuteilung von Arbeitskräften entscheiden. Die Durchsetzung eines solchen meritokratischen Systems zielte auf eine wirtschaftliche Stabilisierung im Einklang mit der Vorstellung von einer „harmonischen Gesellschaft“. Nach dem verlorenen Krieg sollte der Staat mittels zentraler Beratung und Eignungstests leitend in die Berufswahl eingreifen, um Deutschland zu neuer ökonomischer Kraft zu verhelfen. Anhand von drei zeitgenössischen Expert:innen und ihrer divergierenden Ansätze verwies Kössler allerdings auch auf den pluralen Charakter dieser Debatten in der Weimarer Republik. Die Sozialistin Anna Siemsen vertrat den Ansatz, die Differenz zwischen Idealbild und Realität des Berufs ins Zentrum der Berufsberatung zu rücken und somit zur demokratisch-humanen Ausgestaltung von Arbeit beizutragen. Als eine „vererbbare Eigenschaft höherstehender Völker“ verstand hingegen der Eugeniker Hellmuth Bogen die „Berufseignung“, die er von der „Arbeitseignung primitiver Völker“ abzugrenzen suchte. Der Reformpädagoge Aloys Fischer schließlich sah Eignung als „personelle Eigenschaft“, die bereits im Jugendlichen heranwachse und in den Berufsschulen aufgegriffen und weiterentwickelt werden müsse. Abschließend zeichnete Kössler ein Bild von der Berufsberatung als sozialer Praxis und verwies auf die eigenständigen Interessen der Jugendlichen (z. B. Mobilitätswünsche), die auf diese Weise eine Subjektposition im Beratungsprozess gewannen.

OLGA SPARSCHUH (München) zeigte am Beispiel der 1905 gegründeten „Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen“, mit welchen Instrumentarien und Methoden ausländische Bildungsqualifikationen im deutschen Kaiserreich institutionell bewertet wurden. Beweggrund für die Einrichtung dieser Institution waren ausländische Studienanwärter:innen, die um Aufnahme an einer preußischen Bildungseinrichtung ersuchten. Da Qualifikationen wie Zeugnisse jedoch in nationalen Kontexten erworben wurden, gestaltete sich deren Anerkennung als „gleichwertig“ beim Grenzübertritt schwierig. Anhand von Akten aus dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz stellte Sparschuh Bewertungspraktiken der Behörde vor, die sich zwar auf messbare Größen wie die Anzahl von Unterrichtsstunden oder Schuljahren stützte, aber zugleich über einen Ermessensspielraum verfügte, der durch politische Erwägungen und vermutete Bildungshierarchien eingefärbt war und auf diese Weise fragile Fakten erzeugte. Ein valides System für die Bewertung ausländischer Bildungsqualifikationen entstand auf diese Weise bis zum Ende des Kaiserreichs nicht.

Anschließend sprach FRANZISKA REHLINGHAUS (Göttingen) über das Verständnis von Bildung als „Investition“. Einleitend mit dem „Länderexamen“ der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) für die Jahre 1950 bis 1969, in dem die Bundesrepublik hinsichtlich des „Anteils der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt“ mit der Note „mangelhaft“ abschnitt2, verwies sie auf die Virulenz bildungsökonomischer Konzepte in den 1960er-Jahren. Ausgangspunkt war die Annahme über einen engen Zusammenhang von Bildungsinvestitionen und ökonomischem Wachstum, basierend auf der Neuentdeckung des Humankapitals nach 1945. Bildung wurde mithin als Zubringerkategorie für den Arbeitsmarkt definiert, die eine Normierung durch messbare Indikatoren nötig machte. Mit Hilfe von educational planning teams sollten von der OECD Bildungsdaten generiert und Empfehlungen für ein künftiges Wirtschaftswachstum abgeleitet werden. Damit avancierte die OECD zu einem wichtigen bildungs- und wirtschaftspolitischen Akteur auch in Deutschland. Jedoch geriet diese Strategie um 1968 hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkungskraft und Chancengleichheit in die Kritik, was sich auch in den Protesten von Studierenden und Schüler:innen niederschlug. Die OECD errichtete dennoch im selben Jahr ein Centre for Educational Research and Innovation (CERI) und reagierte auf die multilaterale „Kausalitäts-, Zeit- und Legitimationskrise“, wie sie Rehlinghaus eindrücklich benannte, mit einer Modifizierung ihrer Indikatoren und Praktiken – unter anderem durch eine Neudefinition von Qualifikationen und deren Erweiterung um sogenannte soft skills.

JAN KELLERSHOHN (Halle) verglich die Berufsbildungsreform im Braunkohlebergbau der DDR mit jener im westdeutschen Steinkohlebergbau in den 1960er- und 1970er-Jahren. Die als „Schlüssel für die Arbeit der Zukunft“ proklamierte Berufsbildung war seinerzeit Teil einer regelrechten Qualifikationseuphorie in beiden deutschen Staaten. Dennoch existierten deutsch-deutsche Differenzen hinsichtlich des Verhältnisses von Arbeit und Qualifikation im industriellen Strukturwandel. Während die DDR auf das Prinzip der „Disponibilität“ und damit die Verfügbarkeit anpassungsfähiger, gebildeter Arbeitskräfte setzte, war in der Bundesrepublik das aus der amerikanischen Stadtsoziologie der 1920er-Jahre stammende Konzept der „Mobilität“ populär. In beiden Ansätzen ging es darum, dem tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt zu begegnen, der sich mit zunehmender Automatisierung durch den Einsatz von Maschinen auch im Bergbau vollzog. Kellershohn wählte diese Branche als „Sonde“ für die Berufsbildungsreformen, da sie als Symbol der Hochindustrialisierung maximal weit entfernt vom imaginierten Arbeitsbild der Zukunft stand und somit den Übergang von stabilitäts- zu flexibilitätsorientierten Berufssystemen besonders deutlich erscheinen ließ. Allerdings wandelte sich auch Montanarbeit in den 1960er-Jahren von einer Hand- zur Maschinenarbeit und damit zur Kopfarbeit für die Beschäftigten. In der Bundesrepublik reagierte die Bildungspolitik mit einer stärkeren Gewichtung von Schulnoten und Abschlusszeugnissen in der Berufsallokation. Ebenso wurden Intelligenzstrukturtests eingesetzt und ein adäquater Umgang mit „Lernbehinderungen“ in Sonderausbildungsgängen etabliert. Letztlich führte dies zu einer dreigliedrigen Abstufung des Berufsabschlusses, die den vermeintlichen Begabungshöhen entsprachen. In der DDR wurden derartige Verfahren zur Begabungsmessung als Instrumente der Klassenherrschaft zurückgewiesen. Vielmehr führte man kognitive Leistungsdifferenzen auf Charakter- und Persönlichkeitsschwächen zurück, die es durch intensivierte sozialistische Erziehung zu beheben galt. Den Ausführungen Kellerhohns zufolge gingen die Bundesrepublik und die DDR zwar unterschiedliche Wege zur Ausformung von anpassungsfähigen Werktätigen für die Arbeitswelt der Zukunft, doch nutzten beide Staaten mit den Leitkategorien „Disponibilität“ bzw. „Mobilität“ Signifikanten des Mangels, um die Auseinandersetzung zu strukturieren.

Abschließend sprach BENNO NIETZEL (Frankfurt an der Oder) über die „Requalifizierung“ der ostdeutschen Gesellschaft im Zuge des abrupten ökonomischen Strukturwandels nach der Wiedervereinigung 1990. Qualifizierungsmaßnahmen für die marktwirtschaftlich geprägte Arbeitswelt waren im Osten wie im Westen Deutschlands mit hohen Erwartungen verbunden. In Kontrast dazu stand das fragile Wissen über bereits vorhandene Qualifikationen in der ehemaligen DDR. Dieser Umstand erforderte eine enge Verknüpfung mit der Arbeitsmarktforschung, um spezifisches Wissen über die Qualifikationen der ehemaligen DDR-Bürger:innen zu produzieren. Nach ersten Vergleichen mit der Bundesrepublik, die jedoch nur als „Hilfskonstruktionen“ fungierten, wurden zuvor in der DDR erhobene Daten in einen westdeutschen Maßstab überführt. Dabei wurde ersichtlich, dass die Qualifikationen in Ostdeutschland nicht zwingend schlechter, sondern schlichtweg anders strukturiert (mehr Facharbeiter- als Hochschulabschlüsse) oder teilweise sogar besser waren als im Westen der Bundesrepublik. Die angenommenen Defizite verschoben sich somit auf den Verhaltensbereich, begründet durch die Sozialisation in der Planwirtschaft. Eigenschaften wie Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Eigeninitiative oder Entscheidungskompetenz wurden als unzureichend moniert. Allerdings förderten weitere Erhebungen der Arbeitsmarktforschung zutage, dass die Ostdeutschen auch über spezifische Kompetenzen verfügten, die der Marktwirtschaft – insbesondere dem Dienstleistungssektor –zuträglich sein konnten, wie etwa Improvisationsfähigkeit. Auf diese Weise wurden Schlüsselqualifikationen für den Strukturwandel dem Umstellungswillen sowie der Flexibilität der Betroffenen zugewiesen. Der Qualifizierungsbegriff durchlief somit nach Einschätzung Nietzels in den 1990er-Jahren selbst eine Transformation, indem er weniger als staatlich-gemeinschaftliche Herausforderung, denn als individuelle Verpflichtung angesehen wurde.

In der angeregten Diskussion zu den Beiträgen kam zunächst die Frage nach der Gerechtigkeit der vorgestellten Beratungs- und Bewertungspraktiken auf. Till Kössler verwies darauf, dass die Berufsberater:innen in der Weimarer Republik häufig nach Lösungen suchten, um die beruflich produzierte soziale Stratifikation möglichst gerecht auszugestalten. Olga Sparschuh machte deutlich, dass es sich bei der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen stets um Einzelfallentscheidungen und rechtlich unverbindliche Empfehlungen handelte, an denen die Antragstellenden vorbei agieren und sich anderweitig bewerben konnten. Ein weiterer Fragenkomplex betraf die historischen Wissensbestände über Berufe und ihre Qualifikationen und wie diese nachhaltig zugänglich gemacht wurden. Zu solchen Wissensbeständen zählten die Bewertungsvorschläge der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen, in denen die Erkenntnisse der Behörde niedergelegt und verfügbar gemacht wurden. Darüber hinaus entstand parallel zur Berufsberatung eine eigene Berufsforschung, die Aufschluss über die Genealogie der Anforderungen spezifischer Berufsbilder gab. Mit Blick auf das im Vortrag präsentierte OECD-Länderexamen regte Franziska Rehlinghaus an, die Rezeption der Urteile in den negativ evaluierten Ländern vergleichend in den Blick zu nehmen. Daran ließen sich die Reaktionsweisen in den Bildungsagenden sowie die Interaktionsmechanismen zwischen den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems auch international nachvollziehen. Schließlich wurde mit Bezug auf den Vortrag von Benno Nietzel auf den „blinden Fleck“ der Ost-West-Migration im Zuge der Wiedervereinigung hingewiesen, der auch für das Verhältnis von Qualifikation und Arbeit nach 1989/90 relevant war. So sollten die Qualifizierungsmaßnahmen einem Exodus der ostdeutschen Bevölkerung entgegenwirken. Allerdings existierte dieser „blinde Fleck“ der Binnenmigration bereits in der Arbeitsmarkt- und Sozialforschung der 1990er-Jahre und perpetuiert sich bis in historische Untersuchungen der Gegenwart.

Die Sektion widmete sich der Bildung für den Arbeitsmarkt und den historischen Praktiken von Qualifikationsbestimmungen und Qualifikationsmessungen vor allem am Beispiel der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, doch in den Beiträgen zur Zentralstelle für ausländischen Bildungswesen und zur OECD kam auch eine transnationale und international vergleichende Perspektive zum Tragen. Hieran werden weitere Forschungen sicherlich anknüpfen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Franziska Rehlinghaus (Göttingen) / Benno Nietzel (Frankfurt an der Oder)

Till Kössler (Halle/Wittenberg): Die Vermessung von Eignung. Pädagogisch-politische Debatten zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik

Olga Sparschuh (München): Ein System zur Messung ausländischer Qualifikationen im 20. Jahrhundert? Die Gründung der Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen 1905

Franziska Rehlinghaus (Göttingen): Bildung als „Haushalt und Investition“. Wachstumsversprechen und Fehlprognosen der OECD-Bildungsökonomie in den 1960er-Jahren

Jan Kellershohn (Halle): Persönlichkeit und Begabung. Berufsbildung im Bergbau der DDR und der Bundesrepublik (1960er und 1970er Jahre)

Benno Nietzel (Frankfurt an der Oder): Was können die Ostdeutschen? Die Diskussion um berufliche Weiterbildung in den ostdeutschen Ländern in den 1990er Jahren

Anmerkungen:
1 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2018; Themenheft „Sozialgeschichte der Bildung“, Archiv für Sozialgeschichte 62 (2022).
2 Vgl. Klaus Hüfner / Hildegard Hamm-Brücher (Hrsg.), Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt am Main 1973.

https://www.historikertag.de/Leipzig2023/
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